Aus der Praxis: Chancen, Risiken und praktische Erfahrungen zu Two-Tier

Warum Two-Tier in mehr als nur eine Schublade passt

Interview TwoTier Thomas Henzler

Wenn’s mal wieder mehr sein darf, können mehrstufige ERP-Landschaften bzw. der parallele Betrieb einer zweiten ERP-Lösung die optimale Lösung sein. Etwa, wenn es kleinere Standorte und Niederlassungen gibt, die nicht den kompletten Funktionsumfang einer Unternehmens-Software benötigen oder spezielle regionale und lokale Anforderungen haben. Welche Vorteile und Optimierungspotenziale beide Szenarien mit sich bringen, das weiß Thomas Henzler, DSAG-Fachvorstand Vertrieb, Produktion & Logistik und IT-Leiter bei PILLER BLOWERS & COMPRESSORS GmbH, aus eigener Erfahrung.

Für wen und warum ist das Two-Tier-Szenario mit der SAP S/4HANA Cloud, Public Edition interessant?

Thomas Henzler: Cloud-ERP ist seit Jahren in aller Munde, damit einhergehen Assoziationen und Vorteile wie flexibel, skalierbar, innovationsfähig. Im Zusammenhang mit Private-Cloud-Lösungen muss man sich als Anwender jedoch die Frage stellen, wie realistisch diese tatsächlich sind? Grundsätzlich halte ich die „Schublade“, in die ein Two-Tier-Szenario in der SAP S/4HANA Cloud Public Edition aktuell (und häufig sofort) gesteckt wird, für zu klein. Mit dem ERP-Angebot aus der Public Cloud wurde zwar ein Produkt entwickelt, das durch seinen technologischen Aufbau als „natives“ Cloud-Produkt all die genannten Vorteile ausspielen kann. Und nach wie vor ist das Kern-ERP ein wichtiger Bestandteil, aber eben längst nicht mehr der einzige. Denn aktuelle ERP-Landschaften bewegen sich immer stärker in Richtung „Modular ERP“. Dies bedeutet einen stabilen, schlanken digitalen Kern – Stichwort ist hier auch Clean Core – mit Zusatzlösungen auf der Business Technology Platform (BTP) wie z.B. SAP Sales Cloud, aVC und anderen sowie eigene Kundenentwicklungen, die via BTP dann ebenfalls an den digitalen Kern angedockt werden können. Mit SAP Build lassen sich dann bspw. zusätzlich E2E-Workflows über all diese Lösungen abbilden und zentral im SAP Taskcenter zusammenführen. Sprich: Es geht um mehr als nur um ein ERP-System, es geht um eine neue Enterprise-Plattform für alle Geschäftsprozesse in einem Unternehmen. Dies ist für mich auch eine „echte“ Transformation und nicht nur ein Lift & Shift in ein anderes Betriebsmodell.

Was sind Chancen, was eventuelle Risiken und Herausforderungen?

Thomas Henzler: Grundsätzlich liegen der große Nutzen und die Chancen bei der SAP S/4HANA Cloud, Public Edition in all den Vorteilen, die SaaS-Lösungen mit sich bringen, z. B. die schnelle Adaption neuer Funktionen. Die Herausforderungen beginnen jedoch mit der Standortbestimmung und der Frage: „Was kann die S/4HANA Cloud Public Edition Stand heute abbilden, wie tief kann ich meine aktuellen Prozesse wirklich anpassen und möchte ich dies überhaupt?“ Hinzu kommen Themen wie gesetzliche Anforderungen oder auch das Thema Zeit, denn das Wartungsende für die SAP-ECC-Systeme nähert sich in großen Schritten. Vor diesem Hintergrund ist gerade bei Bestandskunden als erster Schritt ein SAP-S/4HANA-On-Premises-System oder entsprechend eine Private-Cloud-Lösung empfehlenswert. Ein Two-Tier-Szenario kann hier ebenfalls ein erster wichtiger Schritt sein, um in einzelnen Unternehmensbereichen oder auch kleineren Niederlassungen und Standorten Erfahrungen zu sammeln und schrittweise zu wachsen.

Warum hat sich PILLER für Two-Tier entschieden – und welcher Ansatz wurde zuvor verfolgt, der sich nicht bewährt hat?

Thomas Henzler: PILLER entschied sich 2017 für SAP S/4HANA On Premises. Im Zuge der internationalen Roll-outs sowie Veränderungen innerhalb unserer SAP-Strategie in Richtung Cloud haben wir mit Two-Tier einen Weg gefunden, der für uns bestmöglich passt, indem er bisher Erreichtes nicht komplett über den Haufen wirft und gleichzeitig offen für Innovationen und neue Anwendungen ist. Unsere Standorte in den USA und Indien haben wir entsprechend in der S/4HANA-Public-Cloud in einem Two-Tier-Szenario mit unserem Headquarter-S/4HANA-System angebunden. Beide Standorte umfassen auch Produktionsstätten, die so ebenfalls in der Public-Edition abgebildet werden. Unsere Erfahrungen daraus plus die weitere Produktstrategie werden darüber entscheiden, ob wir in ein paar Jahren auch mit dem Headquarter vollständig in eine Public Cloud wechseln werden. Ein Schlüsselelement auf dem Weg dorthin ist auch, dass wir unser S/4HANA-On-Premises-System weiter standardisieren, Komplexität herausnehmen und durch ein sauberes Enterprise-Architecture-Management unserer SAP-Plattform kontinuierlich weiterentwickeln.

Was können Sie Kolleg:innen in ähnlichen Situationen mit auf den Weg geben?

Thomas Henzler: Machen Sie sich frühzeitig darüber Gedanken, wie die ERP-Landschaft der Zukunft aufgebaut ist. Ein Assessment für die SAP S/4HANA Cloud Public Edition tut nicht weh, kostet nicht viel Zeit und danach hat man zumindest eine erste Standortbestimmung für sich selbst. Und selbst wenn die Public Cloud zunächst nicht die passende Lösung ist, lohnt es sich, die IT-Landschaft über z. B. Two-Tier-Szenarien kontinuierlich weiterzuentwickeln. 

Wo punktet das SAP-Offering und wo gibt es noch Optimierungspotenziale?

Thomas Henzler: Nach wie vor sind RISE with SAP und auch GROW with SAP stark von kommerziellen Aspekten geprägt und enthalten im Kern SAP-Produkte. SAP muss die Produkte aber auch stärker ‚out of the Box‘ zusammenbringen, ohne dass dafür anwenderseitig aufwändige Integrationsprojekte notwendig sind. Mit der Ankündigung auf der diesjährigen SAPPHIRE ist z. B. die neue Sales-Cloud nun Bestandteil der Public Cloud, also GROW with SAP. Dies ist aus Sicht der E2E-Prozesse ein guter und wichtiger Schritt. Jedoch müssen genau diese Szenarien, wie bereits gesagt, einfach ‚out of the box‘ funktionieren. Ein Traum wäre aus DSAG-Sicht, im SAP4me einfach auf einen Knopf mit dem Namen RISE oder GROW drücken zu können, welcher alle Lösungen auf einmal ausliefert und miteinander integriert.