„Know-how für S/4HANA fehlt oft“

Wer an Digitalisierung im Krankenhaus denkt, darf nicht nur futuristische Projekte wie Künstliche Intelligenz (KI) oder Robotik im Kopf haben, sondern muss auch betriebswirtschaftliche Prozesse im Blick haben, die das Krankenhaus am Laufen halten. Denn genau die müssen einfacher, schneller und effizienter gestaltet werden. Welche Rolle S/4HANA dabei spielt und welche Herausforderungen für die Krankenhäuser mit der Transformation einhergehen, erläutert Tatjana Neitz-Kluge, DSAG-Arbeitskreissprecherin Healthcare, im Interview.

Vor welchen Herausforderungen stehen Krankenhäuser derzeit?

Tatjana Neitz-Kluge: Derzeit gibt es noch keine Nachfolge für die Branchenlösungen IS-H (SAP Industry Solution for Healthcare) für Gesundheitseinrichtungen und i.s.h.med, das klinische Informationssystem von Cerner. SAP hat für R/3 eine Wartungszusage bis zum 31.12.2027 gegeben. Das ist für die Branche eine prekäre Situation, denn es müssen Entscheidungen getroffenen werden auf Basis vieler unbekannter oder sich ständig noch ändernder Sachverhalte. Aktuell stehen daher vor allem betriebswirtschaftliche Prozesse im Fokus, die das Krankenhaus in all seiner Komplexität am Laufen halten. Diese müssen einfacher, schneller und effizienter gestaltet werden. Viele Krankenhäuser haben ihre SAP-ERP-Landschaft schon zwei Jahrzehnte. Ein Wechsel ermöglicht, die in die Jahre gekommenen Geschäftsprozesse kritisch zu beleuchten und sie neu, schlank und effizient zu gestalten. Das bedeutet: Geschäftsprozesse und Datenverarbeitung in Echtzeit, ein nutzerfreundliches, schnell erlernbares, modernes Design. Zudem sollten die SAP-Funktionen gleichermaßen für Desktop, PC, Tablet und Smartphones einsetzbar sein.

Warum möchten Krankenhäuser auf S/4­HANA wechseln, wenn es doch kein Nachfolgeprodukt von SAP und Cerner gibt?

Das Wartungsende für R/3 bedeutet, dass auch die Branche Krankenhaus auf S/4HANA umstellen muss, wenn sie nicht in die kostenpflichtige Extended-Wartung ab 2028 bis längstens 2030 fallen will. Zudem steht zu befürchten, dass die bestehende betriebswirtschaftliche Lösung R/3 nur noch rudimentär weiterentwickelt wird. Moderne Technologien, ein Re-Design der Nutzeroberfläche, Datenverfügbarkeit in Echtzeit werden mit R/3 nicht mehr erreicht werden können. Selbst gesetzliche Anforderungen werden vermutlich nur noch mit vorhandenen Lösungen umgesetzt, aber ohne Prozessoptimierung und sicher zu Lasten des bedienenden Personals in den Krankenhäusern. Prozessoptimierungen werden mit R/3 nur noch schwerlich möglich sein.

„Da viele SAP-Landschaften in den Krankenhäusern durch Add-ons, Modifikationen, Eigenentwicklungen und Sonderlösungen geprägt sind, sind Support und Betrieb sehr aufwendig, fehleranfällig und pflegeintensiv.“

Tatjana Neitz-Kluge

DSAG-Arbeitskreissprecherin Healthcare

Inwieweit wird S/4HANA im Krankenhaus bereits eingesetzt und hat sich die Lösung auch schon bewährt?

Wenige Krankenhäuser haben die Migration auf die HANA-Datenbank projektiert. Einige haben die betriebswirtschaftlichen Module auf S/4HANA migriert. Der vermutlich größte Teil befindet sich allerdings in der Projektanalyse und -planung. Dazu gehören u. a. Themen wie die Vertragskonversion, die finanzielle und personelle Planung, die Bewertung der Mehrwerte und die Planung der Quick-Win- sowie der Konsolidierungsprojekte.

Wie weit ist die deutsche Krankenhauslandschaft vorbereitet, Prozesse übergreifend zu automatisieren, Datensilos aufzulösen und die Performance des Gesamtsystems zu optimieren?

Derzeit bereiten sich die Krankenhäuser über Vor- und Reorganisationsprojekte auf die Anforderungen vor. Die zurzeit individuellen Systemlandschaften der SAP- und Non-SAP-Systeme werden untersucht. Vor- und Nachteile von Green- und Brownfield-Strategien werden analysiert. Da viele SAP-Landschaften in den Krankenhäusern durch Add-ons, Modifikationen, Eigenentwicklungen und Sonderlösungen geprägt sind, sind Support und Betrieb sehr aufwendig, fehleranfällig und pflegeintensiv. Neue Anforderungen sind somit auch für SAP schwer umzusetzen, denn die Individualität in den Einrichtungen ist zu groß. Dementsprechend streben Krankenhäuser bei S/4HANA vor allem eine Best-Practice-Implementierung an. In den Umsetzungsprojekten wird sich zeigen, ob branchenspezifische Themen, wie z. B. die Integration der Logistik und der Krankenhausapotheken mit der Versorgung von Patientinnen und Patienten auf Station und in den OPs in Einklang zu bringen sind. Ein weiteres branchenspezifisches Beispiel ist die Integration zwischen Personaladministration und der Notwendigkeit, die Krankenhausarztnummer im Krankenhausarztnummernverzeichnis abrufen, administrieren und für die medizinische Dokumentation anwenden zu können. Mit der Telematikinfrastruktur (TI) kommt nun auch noch der elektronische Heilberufsausweis (eHBA) für das ärztliche Personal hinzu. Für die Krankenhäuser ist es schwierig, solche Spezialanforderungen als Standardlösung angeboten zu bekommen.

Arbeitskreis Healthcare

Der Arbeitskreis beschäftigt sich neben den Themen der Patientenversorgung u.a. mit der betriebswirtschaftlichen Effizienz. Das Spannungsfeld zwischen Innovationen und den kurzfristigen Gesetzesumsetzungen erfordert die enge Zusammenarbeit mit SAP, Cerner und weiteren Software-Anbietern.

Inwiefern erwarten Sie bei der Transformation auf S/4HANA Herausforderungen?

Viele Krankenhäuser setzen IS-H und einen großen Teil von i.s.h.med ein. Hier fehlt jedoch eine Nachfolge für die Patientenadministration und -abrechnung sowie für die medizinische Dokumentation. Dementsprechend können Krankenhäuser nicht einfach komplett auf S/4HANA wechseln. Stattdessen muss die heutige Systemlandschaft von den betriebswirtschaftlichen Modulen getrennt werden, die bereits zu S/4HANA transformiert werden können. Mittels Konnektoren müssen dann die kaufmännischen Module integriert werden. Hier ist derzeit die Integration zwischen der OP-Dokumentation im i.s.h.med und der Materialwirtschaft besonders herausfordernd. Im Vorfeld der Transformation bedeutet auch die Datenbereinigung der Stammdaten – also das Entfernen von Dubletten und das Sicherstellen korrekter Adressdaten – viel Arbeit für den Fachbereich.

Welche Aufgaben sind vor einer Transformation dringend zu bewältigen?

Krankenhäuser müssen Konzepte zur Altdatenübernahme erstellen. Immer mit der Frage im Hinterkopf: Was ist wirklich nötig, um arbeitsfähig und rechtskonform zu bleiben? Natürlich ohne dabei ein Neudenken der Prozesse zu blockieren und die Chance auf eine erfolgreiche digitale Transformation sowie auf die Optimierung der Geschäftsprozesse zu verlieren. Für alle Daten, die nicht übernommen werden, muss über ein Archivierungskonzept nachgedacht werden. Zunächst wird zwar das SAP-ERP-System mit den Modulen IS-H und i.s.h.med noch betrieben, und die kaufmännischen Module bleiben bei einem Greenfield-Ansatz zu Auskunfts- und Auswertungszwecken verfügbar. Letztendlich muss aber das alte ERP-System aus IT-Sicht in angemessener Zeit spätestens dann, wenn auch die Nachfolge für IS-H und i.s.h.med geregelt ist, auf jeden Fall abgeschaltet werden. Es ist kaum vorstellbar, die alte ERP-Landschaft aus personellen, finanziellen und IT-Sicherheitsgründen noch jahrelang weiter betreiben zu müssen.

Was muss noch beachtet werden?

Alle Daten müssen unter Einhaltung der Aufbewahrungsfristen über ein Archivsystem abrufbar sein. Außerdem müssen Krankenhäuser davon ausgehen, dass die großen Datenmengen durch Jahrzehnte eingesetzte SAP-ERP-Systeme den Wechsel zu einem S/4HANA-System erschweren. Das System sollte vorher verschlankt werden – das spart Zeit und Geld. Deshalb ist die Archivierung, die sicher in den meisten Einrichtungen in der Vergangenheit eher vernachlässigt wurde – Performance und Plattenkapazität waren nicht unbedingt ein dazu drängendes Thema –, auch ein wichtiges Teilprojekt in der Konsolidierungsphase. Hier spielt das Information Lifecycle Management (ILM) eine wichtige Rolle. Doch leider waren die Möglichkeiten von ILM für Krankenhäuser eher begrenzt, als es darum ging, im Zuge der EU-Datenschutz-Grundverordnung 2018 Patienten- und Falldaten zu archivieren und zu sperren. So gibt es z. B. noch heute keine Möglichkeit, Falldaten zu sperren. Wer sich schon einmal mit einer SAP-Datenarchivierung befasst hat, weiß, welcher Zeitaufwand hier gerade auch in den Fachbereichen eingeplant werden muss. Zum einen, um die rechtliche Basis sicherstellen zu können, und zum anderen hinsichtlich der Datenqualität. Nur in sich konsistente, vollständig abgeschlossene Geschäftsvorfälle sind archivierbar.

Gibt es noch weitere anstehende Konsolidierungsprojekte und welche Systeme müssen eventuell abgelöst werden?

Die Einführung der neuen Abschreibungsrechnung in der Anlagenbuchhaltung (FI-AA) oder der Wechsel von der klassischen Budgetführung im Public Sector Management (PSM) zu Business Consolidation (BCS) sind noch weitere Konsolidierungsprojekte, die auf uns zukommen. Da SAP nicht vorsieht, dass BCS und eine klassische Budgetierung parallel genutzt werden, müssen die bestehenden Budgetdaten migriert werden. Um auf S/4HANA migrieren zu können, müssen Unternehmen auch das Hauptbuch von S/4HANA einführen. Zudem ändert sich die Geschäftspartnerpflege. Mit der neuen Business-Partner-Pflege können mehrere Rollen demselben Geschäftspartner zugeordnet werden. Hier müssen Krankenhäuser ganz genau planen, wie sie am besten vorgehen.

Wie ist es im Krankenhaus um das S/4­HANA-Know-how, Informationen und dazu passende Ressourcen bestellt?

Das Know-how rund um S/4HANA zu Technologie, Datenbank und Entwicklung muss neu aufgebaut werden. Für den Transformationsprozess benötigt man aber auch das Know-how der „alten Hasen“ aus den Fachbereichen und der IT, die das SAP-ERP-System im besten Fall mit eingeführt haben, das Unternehmen sowie die zahlreichen Add-ons, Modifikationen und Erweiterungsimplementierungen kennen und bewerten können. Hier wirkt die Altersstruktur nicht begünstigend. Zudem kämpfen die Krankenhäuser gegen den Fachkräftemangel. In der Vergangenheit wurden fehlende Personalressourcen oder fehlendes Know-how durch externe Berater abgedeckt, aber auch die Beratungsunternehmen spüren den Fachkräftemangel. Daher stellt sich die Frage: Gibt es überhaupt genügend Personal mit Erfahrung am Markt, um die Engpässe abdecken zu können? Zudem spielen in den Ausschreibungsprozessen oftmals die Kosten eine wesentliche Rolle. Doch wer keine gute Fachexpertise beauftragt, wird im Projekt über kurz oder lang mit negativen Auswirkungen rechnen müssen.

Welche Herausforderungen ergeben sich noch durch das Thema Cloud?

Die Cloud-Technologie wird zur Herausforderung. Die Nutzung einer Cloud verspricht für Krankenhäuser viele Vorteile, u. a. große Datenmengen schnell zu verarbeiten und damit datenintensive Technologien einzusetzen. Aber welche rechtlichen Aspekte sind dabei zu beachten? Auch hier müssen erst einmal die Angebote wie Public und Private Cloud hinsichtlich datenschutzrechtlicher Aspekte in dieser Branche geklärt werden. Dabei muss im Projekt eng mit Datenschutz- und Datensicherheit sowie dem Personalrat zusammengearbeitet und die Anforderungen aus den jeweiligen Landesdatenschutzgesetzen beachtet werden.

Wie lassen sich alle Geschäftsbereiche und Stakeholder am besten einbeziehen?

Es besteht immer die Gefahr, dass die Fachbereiche die Transformation auf S/4HANA als ein reines Migrationsprojekt für die IT betrachten. Deshalb ist es wichtig, die Unternehmensführung und die betroffenen Geschäftsbereiche frühzeitig abzuholen, ihnen den Mehrwert des Projekts zu verdeutlichen und den Change-Prozess kompetent und zielführend zu begleiten. Ohne Stakeholder aus der Unternehmensleitung scheitert das Projekt. Zudem wird ein Change-Manager alle Maßnahmen verantworten müssen, die Veränderungen in Verhaltensweisen, Systemen und Prozessen sowie Strategien und Strukturen vorsehen. Das Change-Management wird sicher an vielen Stellen zum Stolperstein. Die Unternehmensleitung und das Management dürfen Veränderungen im Unternehmen nicht einfach anordnen und durchsetzen, denn Veränderungen provozieren Verunsicherung und Ängste in der Belegschaft. Der Mehrwert der Veränderungen muss deutlich werden, Entscheidungsprozesse müssen transparent sein und kommuniziert werden. Den Mitarbeitenden muss durch kontinuierliche Information, Beteiligung und Schulung die Angst genommen werden. Dafür muss genügend Zeit kalkuliert werden. Doch dieses Ziel kollidiert leider oft mit den fehlenden Ressourcen in allen Fachbereichen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Bildnachweis: istock, istock+Daniella Winkler, T. Neitz-Kluge

Autorin: Julia Theis
blaupause-Redaktion
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