Bewegungen am KIS-Markt

SAP-Strategiewechsel versetzt Gesundheitsbranche in Aufruhr

Keine Zeit zum Durchatmen in der Healthcare-Branche. Auf der einen Seite die Corona-Pandemie und die Anforderungen des Krankenhauszukunftsgesetzes (KHZG). Auf der anderen das Thema Software-Lösungen. Der SAP-Strategiewechsel versetzt in Aufruhr. Insbesondere sorgte eine Ankündigung von SAP im Oktober 2022 für Aufruhr. Der Software-Hersteller wird keine Nachfolgelösung für die Branchenlösung SAP Industry Solution Healthcare (IS-H) – auch bekannt als SAP Patientenmanagement – in der S/4HANA-Enterprise-Resource-Planning (ERP)-Welt anbieten. Gleichzeitig brachte sie Bewegung und Unruhe in den Markt für Krankenhausinformationssysteme (KIS).

Konkret kündigte der Walldorfer Software-Hersteller damals an, dass die bisherigen Funktionalitäten in IS-H für die Patientenverwaltung und -abrechnung künftig über die KIS anderer Software-Hersteller abgebildet werden müssen. Eine Entscheidung mit Folgen – insbesondere auch für die Häuser, die derzeit das KIS von Oracle Cerner einsetzen. „IS-H ist sehr eng mit dem von vielen Häusern verwendeten Krankenhausinformationssystem i.s.h.med von Oracle Cerner verknüpft. Dieses Produkt wird zur Gänze auf der abgekündigten SAP-Enterprise-Resource-Planning-Central-Component (ERP ECC)-Infrastruktur betrieben“, erläutert Michael Pfeil, Arbeitskreissprecher Healthcare der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe e. V. (DSAG). Der Industrieverband vertritt die Interessen von mehr als 180 Kliniken und Krankenhäusern in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Darunter finden sich unter anderem auch Krankenhäuser der Maximalversorgung und fast alle Uni-Kliniken, aber auch Diakonien und Stiftungen, in denen Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und Altenheime vereint sind.

Die Branche kämpft mit vielen Fragezeichen

Michael Pfeil, DSAG-Arbeitskreissprecher Healthcare, über den SAP-Strategiewechsel, der die Gesundheitsbranche in Aufruhr versetzt
Michael Pfeil, DSAG-Arbeitskreissprecher Healthcare

„Mit i.s.h.med werden die medizinischen Daten der Patientinnen und Patienten erfasst – von der Anamnese über die Therapie bis zur Nachbehandlung. Aber Oracle Cerner wird den Support für das KIS ebenso einstellen“, ergänzt Michael Pfeil. Zwar bietet Oracle Cerner seinen Kunden unter bestimmten Bedingungen eine Verlängerung der Wartung bis 2035 an und hat angekündigt, eine Nachfolgelösung für i.s.h.med auf den Markt zu bringen. Aber wann diese Lösung einen vollständigen Ersatz der i.s.h.med-Funktionen bieten kann, ist derzeit noch unklar. Laut SAP sollen die aktuell in IS-H abgebildeten Funktionalitäten für Patientenadministration und -abrechnung ja wie erwähnt zukünftig durch moderne Krankenhausinformationssysteme (KIS) verschiedener Hersteller realisiert werden. „Inwiefern bzw. ob das mit dem Klinischen Informationssystem von Cerner (i.s.h.med) in Zukunft überhaupt möglich sein wird, ist allerdings noch unklar“, so Michael Pfeil.

Laut einer DSAG-Umfrage haben die Entscheidungen von SAP und die Unklarheit in Bezug auf i.s.h. med große Auswirkungen auf die Mitgliedsunternehmen. Entsprechend hoch ist der Leidensdruck in den Kliniken und Krankenhäusern. „Mehr als die Hälfte der Befragten ist jetzt in einer besonders misslichen Lage, denn sie setzen i.s.h. med als führendes klinisches Informationssystem ein. Sie müssen also auch ein neues KIS suchen, das die notwendigen IS-H-Funktionalitäten gleich mit abdeckt“, so Michael Pfeil. Eine schwere, zeitaufwändige und kostenintensive Aufgabe.

Unkalkulierbare Situation für eine komplette Branche

Denn um ein KIS-System zu ersetzen, können Beträge in Millionenhöhe fällig werden. „Da es aus DSAG-Sicht unrealistisch ist, dass alle Häuser zwischen 2024 und 2030 auf Partnerlösungen wechseln können, die schlicht und ergreifend aktuell noch nicht existieren, warten erhebliche Kosten auf die Häuser. Eine realistische Lösung ist noch immer nicht absehbar. Das bringt alle Beteiligten in eine unkalkulierbare Lage“, urteilt Michael Pfeil. Entsprechend wäre ein erster wichtiger Schritt, dass SAP eine Extended Maintenance für IS-H ohne Aufpreis anbietet und die Wartung bis 2035 sicherstellt.

Hinzu kommt: Die Einführung eines neuen KIS wird aus Sicht der DSAG nicht als eine Big-Bang-Umstellung realisierbar sein. „Bis für alle bestehenden Funktionalitäten in allen Ambulanzen und Stationen Lösungen produktiv sind und die Digitalisierungsprojekte z. B. im Rahmen des Krankenhauszukunftsgesetzes (KHZG) umgesetzt sind, sind sicher mindestens drei Jahre Projektlaufzeit anzusetzen. Diese Zeiten gelten aber nur, wenn die Funktionen auch wirklich getestet verfügbar sind“, erläutert der DSAG-Arbeitskreissprecher. Krankenhäuser, die sich als Piloten für die Neuimplementierung der noch zu entwickelnden Lösungen bereiterklären, müssen sicher mit erheblich höherem Aufwand, umfangreichen Parallelprojekten und längerer Laufzeit rechnen, haben aber den Vorteil, früher starten zu können.

Vereinzelte Lichtblicke am Markt

Doch hier spielt auch die Gesamtsituation am KIS-Markt eine Rolle. „Die Einrichtungen müssen ihre Systemarchitekturen betrachten und darauf aufbauend über passende Lösungen diskutieren. Die Basis in den Häusern ist sehr unterschiedlich“, weiß Michael Pfeil. Aktuell ist nach Informationen der DSAG der einzig valide Fakt, dass der Bonner Medizinsoftware-Anbieter Dedalus ein ganzheitliches System anbietet – allerdings bedeutet das dann eine umfangreiche Neueinführung bei den Standorten, die das cloud-gestützte ERP-System Orbis von Dedalus noch nicht einsetzen. „Aktuell bekommen wir sonst nur Absichtserklärungen und Visionen präsentiert – häufig mit dem Fokus auf eine Cloud-Strategie. Doch die Cloud ist noch nicht allumfassend für alle Kliniken und Krankenhäuser eine Option“, weiß der DSAG-Experte.

Wenngleich die Situation eher negativ scheint, so gibt es dennoch auch einzelne Lichtblicke am Markt. Beispielsweise GITG beabsichtigt, eine IS-H-Nachfolge im S/4HANA-Umfeld zu entwickeln. Auch T-Systems Austria plant für die österreichischen und Schweizer Kunden in dieser Form etwas anbieten. Die CompuGroup möchte neben ihrem Klinischen Arbeitsplatzssystem (KAS) den Kunden ebenfalls ein Patientenadministrations- und Abrechnungssystem auf Basis der offenen Fast-Healthcare-Interoperability-Resources (FHIR)-Schnittstelle anbieten. Auch die Telekom Healthcare Solutions hat sich analog positioniert. Oracle Cerner beabsichtigt ihren Kunden in der Oracle-Cloud-Plattform einen Ersatz zu IS-H und i.s.h.med anzubieten. „Wir sehen Chancen bei ambitionierten Partnern, die bereits erste Demo-Versionen zeigen konnten. Her ist allerdings anzumerken, dass vor 2025 keine Lösung marktreif sein wird“, bedauert Michael Pfeil. Im besten Fall betreiben dann die Häuser nicht heterogene, sondern homogene Systemarchitekturen und werden intensiv durch die Hersteller unterstützt.

Dienstleister sind Mangelware

Der DSAG-Arbeitskreissprecher ist sich sicher: „Zeit wird ein wesentlicher Faktor sein – und bei der Planung noch prominenter werden als das ohnehin der Fall ist.“ Das scheinen die Hersteller jedoch erkannt zu haben, und geben vermehrt Zusagen bezogen auf die Wartung von Bestandssystemen über Ende 2030 hinaus. Dennoch ist sich die DSAG sicher: Im Falle der Ablösung von SAP IS-H und damit automatisch bedingt i.s.h.-med. wird es für die Kunden teuer und finanziell kaum stemmbar. Eine kostenfreie Verlängerung der Wartung für IS-H schließt SAP bisher aus. Projekte in diesem Ausmaß sind nicht in der Zeitschiene bis 2027 oder 2030 zu schaffen.

Für realistischer hält der Industrieverband eine Umsetzung bis in das Jahr 2035. „Wir müssen bedenken, dass es um die digitalen Transformationen in den kaufmännischen und ärztlichen Bereichen und damit verbundene Großprojekte wie KHZG, S/4HANA, KIS, Telematik-Infrastruktur (TI) (ausschreiben) und vieles mehr geht“, so Michael Pfeil. Alles Projekte, wo Kliniken und Krankenhäuser auch auf die Unterstützung kompetenter Dienstleister angewiesen sind. Die stehen jedoch längst nicht im benötigten Umfang mit der notwendigen Expertise zur Verfügung.

Alternativen am Markt prüfen

Diese verheerende Gesamtsituation im Blick, müssen sich die Einrichtungen nun mögliche Konsequenzen überlegen – und eventuell Lösungen bzw. Alternativen am Markt in Betracht ziehen. „Viele Häuser werden sich fragen, ob aus Kosten- und Aufwandsgründen für ihre administrativen Geschäftsprozesse überhaupt noch eine SAP-Lösung infrage kommt. Und die gesamte Branche muss sich der Cloud-Frage stellen“, ist sich der DSAG-Arbeitskreissprecher sicher. Hierfür müssten jedoch zunächst der Mehrwert in Relation zu Kosten, Aufwand und Produktivität erkennbar sein und vor allem Standards geschaffen werden. „Die relevanten Hersteller müssen umdenken und auf die Bedarfe der Kunden eingehen. Strategien, die nur in die Cloud führen, werden scheitern“, so Michael Pfeil.

Die Empfehlung der DSAG an Krankenhäuser und Kliniken ist eindeutig: Sie müssen priorisieren und entsprechend Ressourcen zur Verfügung stellen. Die DSAG selbst bietet dahingehend eine Unterstützung, dass sie DACH-übergreifend und gebündelt die Interessen der betroffenen Häuser gegenüber SAP und den Dienstleistern vertritt. „Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Dienstleister mit den Fakten zu konfrontieren. Gemeinsam diskutieren wir mögliche Lösungen und Zeitplanungen. Es ist wichtig, dass Einrichtungen gemeinsam eine starke Stimme am Markt haben. Jeder für sich allein wird hier nicht viel bewirken können“, ist sich der IT-Experte sicher. Denn: Die herrschenden Unklarheiten haben massive Auswirkungen auf Transformations-Roadmaps und -Planungen in allen Häusern. Die Strategie von SAP im Healthcare-Bereich ist aus DSAG-Sicht schlichtweg unverantwortlich. Sie fordert den bereits stark beanspruchten Gesundheitssektor zusätzlich – und das mit nicht in Gänze abschätzbaren Folgen.