Haben Sie schon mal den Verwendungszweck auf einer Überweisung vergessen? Oder sich bei einer Rechnung vertippt? Was wie eine Kleinigkeit erscheint, macht Unternehmen oft viel Arbeit. Zwar buchen die meisten Unternehmen eingehende Zahlungen heute automatisch. Doch bei solchen Fehlern müssen Mitarbeitende im Rechnungswesen zumeist noch manuell eingreifen. Nicht so beim Schweizer Energiekonzern Alpiq. Das Unternehmen setzt auf maschinelles Lernen mit der SAP Cash Application.

Uwe Schubkegel, Head ERP Applications bei der Alpiq AG

Der steigende Kostendruck im Energiegeschäft und der Wunsch, in digitalen Märkten zu wachsen, haben Alpiq dazu bewegt, in neue Felder vorzudringen. „Wir haben nach Wegen gesucht, die Kosten bei internen Prozessen zu senken“, so Uwe Schubkegel, Head ERP Appli­cations bei Alpiq. Zusammen mit SAP wurde 2017 ein Pilotprojekt im Umfeld des maschinellen Lernens gestartet. Das Ziel war es, eine Lösung zu finden, die den Zahlungsausgleichs­prozess mit minimalen Wartungs- und Implementierungskosten effektiv automatisiert.

Test am Live-System

Zunächst wurde mit einem Sandbox-System gearbeitet, ab dem Jahr 2018 mit Testdaten und dann im Produktionssystem getestet. „Mir war es wichtig, die Cash Application im Produktionssystem zu testen. Deshalb haben wir mit echten Daten ein paar Wochen parallel zum Tagesbetrieb gearbeitet. Erst anschließend haben wir uns entschieden, die Cash Application auszurollen“, erläutert Uwe Schubkegel. Bis jetzt wurde die Lösung selektiv für vier von 80 Buchungskreisen eingeführt. Weitere sind jedoch bereits in Planung.

Neben dem Groß­kunden- und Retail-Geschäft bietet das Unternehmen seinen Kunden digitale Energiedienstleistungen und verfügt über ein ausgereiftes Kompe­tenz­zentrum für Elektromobilität.

Die Idee hinter der Lösung ist einfach und genial zugleich: Die Cash Application (siehe Glossar) ordnet die eingehenden Überweisungen aufgrund historischer Daten automatisch der richtigen Rechnung zu. Oder die Lösung schlägt dem Mitarbeitenden vor, welche Überweisung am wahrscheinlichsten zu welcher Rechnung passt. Dabei merkt sie sich, welche Schritte der Bearbeiter unternimmt, um die Überweisung richtig zuzuordnen. Auf diese Weise lernt das System ständig hinzu und reduziert mithilfe des sich immer weiter erhöhenden Automatisierungsgrads die Kosten. Nützlich ist das auch bei länderspezifischen Unterschieden im elektronischen Bankwesen, die die Komplexität für international agierende Unternehmen zusätzlich erhöhen. Diese Unterschiede lernt das System automatisch, was händische länderspezifische Anpassungen obsolet macht.

Mehr als 97 Prozent automatisiert

Vor der Machine-Learning-Lösung verwendete Alpiq einen traditionellen regelbasierten Ansatz zur Automatisierung des Zahlungsausgleichs. Mit ständigen Formatänderungen und neuen Zahlungsmethoden war es zu einer Herausforderung geworden, die Regeln einzuhalten. Von den zirka 100.000 Bank-Statements, die das Schweizer Unternehmen pro Jahr verarbeitet, konnten bis zur erfolgreichen Einführung der Cash Application zirka 15 Prozent nicht automatisch mit dem klassischen regelbasierten Ansatz ausgeglichen werden. Doch das gehört nun der Vergangenheit an.

„Durch die Cash Application konnten wir Mitarbeitende von Routineaufgaben entlasten, Überstunden reduzieren und einen Automatisierungsgrad von mehr als 97 Prozent erreichen. Diese Mitarbeitenden können ihre Energie jetzt verstärkt auf andere Aufgaben verwenden, statt Kontoauszüge auszulesen“, beschreibt Uwe Schubkegel den Fortschritt. Lediglich drei Prozent der Bank-Statements müssen jetzt noch manuell bearbeitet werden.

Innerhalb des Fachbereichs stieß die Machine-­Learning-Lösung jedoch nicht überall sofort auf Zustimmung. „Einerseits konnten sich die Mitarbeitenden nicht vorstellen, dass wir unsere schon gute Automatisierungsrate mit Machine-Learning noch steigern könnten. Andererseits hatten einige Angst um ihre Arbeitsplätze“, erinnert sich der IT-Experte. Diese Angst stellte sich jedoch als unbegründet heraus. Bei den bisher durch das maschinelle Lernen unterstützten vier Buchungskreisen konnten täglich ca. anderthalb Arbeitsstunden eingespart werden. Noch nicht genug, um tatsächlich am Personal zu sparen. Doch das war auch nie das Ziel. Viel wichtiger war der zweite Mehrwert, den die Cash Application mit sich brachte: Der maschinelle Kollege gibt Hinweise und Vorschläge für Buchungen, die noch manuell verarbeitet werden müssen. Das spart Zeit und ermöglicht es, z. B. Tagesergebnisse und den Cashflow schneller zu erfassen.

2018 erwirtschafteten rund 1.550 Mit­arbeitende für die Alpiq AG einen Umsatz von 5,2 Mrd. CHF (4,75 Mrd. Euro).

Machine-Learning mit ERP ECC 6.0

Wenngleich der Nutzen der Machine-Learning-­Anwendung inzwischen überzeugt, so mussten zuvor auch Herausforderungen gemeistert werden. Beispielsweise war die Machine-­Learning-Lösung für S/4HANA entwickelt worden, der Energieversorger setzt jedoch noch ERP ECC 6.0 ein. „SAP musste erst noch einen Connector entwickeln, um die Machine-Lear­ning-Plattform an unser ERP-System anbinden zu können. Und der sollte natürlich kostenpflichtig sein“, beschreibt der IT-Experte. Des Weiteren tat sich der Konzern zunächst schwer, ein Pilotsystem aufzubauen, denn über das Sandbox-System ließ sich das tatsächliche Tagesgeschäft nicht richtig abbilden. „Natürlich kann ich meine Kontoauszüge, die ich jeden Tag bekomme, auf das System duplizieren, aber dann habe ich keine offenen Posten, und es werden keine Buchungen vorgenommen. Außerdem konnten wir nicht jeden Tag eine Systemkopie machen. Uns war schnell klar, dass wir an einem Live-System testen müssen“, fasst Uwe Schubkegel zusammen. Deshalb wurde die Cash Applica­tion für neun Wochen an die Produktion angeschlossen und erst dann der Business-Case gerechnet. Der eigentliche Go-live sei dann kaum noch mit Aufwand verbunden gewesen.

Aufgrund dieser positiven Erfahrungen ist das Thema Machine-Learning bei Alpiq auch noch lange nicht vom Tisch. „Derzeit gleichen wir die Kreditoren- bzw. Debitorenrechnung mit der Cash Application aus. Wir hoffen jedoch, dass SAP auch für die Sachkontenbuchung eine Automatisierungslösung anbieten wird“, so Uwe Schubkegel. Dann will das Unternehmen auch hier mit voller Energie in ein weiteres Machine-Learning-Kapitel eintauchen.

Bildnachweis: Anna Polywka + Shutterstock + Alpiq AG

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