Die Pflicht zur Kür gemacht

VSE_Windrad

Unternehmen der Energieversorgung hatten kürzlich ordentlich zu tun. Der Grund: Seit dem 1. Dezember 2019 müssen alle Messwerte im Verantwortungsbereich der Messstellenbetreiber erhoben, aufbereitet und stern­förmig zwischen externen Marktteilnehmern, den Netzbetreibern und Lieferanten versandt werden. Als Messstellenbetreiber musste die VSE-Gruppe ihre Prozesse grundlegend verändern. Doch statt nur das Pflichtprogramm zu erfüllen, wurde eine umfängliche Transformation gewagt und S/4HANA for Utilities sowie die SAP Market Communication Cloud for Utilities eingeführt. Ein Großprojekt mit bis zu 100 Personen.

Dr. Andreas Berg, Leiter des Bereichs Digitalisierung und Gesamtverantwortlicher für die IT

Im Netz herrscht Regulierungsdruck, im Vertrieb nimmt das Wechselverhalten der Kunden zu und damit einher gehen Rohertragsrückgänge, die auch die VSE als Unternehmen betreffen – das sind nur drei Herausforderungen, die der Energieversorger meistern muss. „Der Kunde ist in der Wahl seines Energieanbieters frei und hat entsprechend hohe Erwartungen“, beschreibt Dr. Andreas Berg, Leiter des Bereichs Digitalisierung und in der Funktion auch Gesamtverantwortlicher für die IT der VSE AG. Darüber hinaus ist die Integration der erneuerbaren Energien technisch anspruchsvoll, und gesetzliche Änderungen sowie die Veränderungen des Marktes machen es notwendig, sich weiterzuentwickeln. „Wir müssen an unseren Prozessen und unserer Kundenschnittstelle stetig arbeiten, um allen Anforderungen gerecht zu werden. Die IT und digitale Prozesse werden zunehmend zum Motor des Wandels“, so Dr. Andreas Berg.

Pilotprojekt mit SAP

Eine Veränderung, die das Unternehmen ohne IT nicht hätte meistern können, stand erst kürzlich auf der Agenda: Die Umsetzung des Messstellenbetriebsgesetzes und der Marktkommunikation 2020 im Rahmen des Gesetzes zur Digitalisierung in der Energiewende. „Die Marktkommunikation 2020, die für den Informationsaustausch zwischen Energielieferanten, Netzbetreibern und Messstellenbetreibern steht, sieht vor, dass alle Messwerte im Verantwortungsbereich der Messstellenbetreiber erhoben, aufbereitet und sternförmig zwischen externen Marktteilnehmern, den Netzbetreibern und Lieferanten versandt werden“, erläutert Dr. Andreas Berg. Die Folge: Die Marktprozesse veränderten sich, und eine neue Lösung musste dafür her. Gefunden hat das Unternehmen diese schließlich gemeinsam mit SAP in einem Pilotprojekt.

Die VSE ist seit jeher ein SAP-zentriertes Unternehmen. Sie setzt über die branchenspezifische Software-Lösung IS-U hinaus sowohl beim Core ihrer ERP-Landschaft als auch beim Data-Warehouse und der Abbildung von technischen Betriebsprozessen auf Lösungen von SAP. Und auch im Netz selbst wird eine HANA-basierte Datenintegrationsplattform flächendeckend in den netzbetrieblichen Prozessen eingesetzt. „Um den neuen Aufgaben gerecht zu werden, haben wir zunächst ab Anfang 2019 S/4HANA for Utilities in einem Greenfield-Ansatz implementiert“, erläutert Projektleiterin Astrid Ziegler, Leiterin IT und Marktprozesse im Bereich Digitalisierung der VSE AG. An die zentrale On-Premise-Lösung wurde zudem die Market Communication Cloud for Utilities (siehe Glossar) angebunden. Diese übernimmt den gesetzlich vorgeschriebenen elektronischen Austausch der Marktnachrichten.

Näher an den Standard gerückt

Astrid Ziegler, Leiterin IT und Marktprozesse im Bereich Digitalisierung, bei der VSE AG

Wir sind einer von wenigen Versorgern in Deutschland, die eine dreigliedrige SAP-for-Utilities-Landschaft (IS-U-Landschaft) für die Marktrollen Vertrieb, Netz und Messstellenbetrieb haben“, erläutert Astrid Ziegler. Im ersten Schritt wurde der Messstellenbetrieb auf S/4HANA migriert und ein reinrassiges Messstellenbetriebssystem ausgeprägt – einschließlich der SAP-Lösung MOS Billing für die Abrechnung moderner Messeinrichtungen und intelligenter Messsysteme. Dabei wurden Datenstrukturen vereinheitlicht und Eigenentwicklungen abgelöst. „Es ging uns besonders um die Eigenentwicklungen, die bisher in IS-U nötig waren und deren Funktionen SAP jetzt in S/4HANA für Utilities nachgezogen hat“, erläutert die IT-Expertin. Gleiches gilt auch beim Formatwechsel.

Für die Marktkommunikation setzt die VSE die Cloud-Lösung Market Communication Cloud for Utilities ein. Mit ihr werden Formatänderungen, Zertifikatsüberprüfungen und weitere Standardprozesse zentral abgewickelt. „Die Lösung wird bisher nur im Messstellenbetrieb für wettbewerbliche und grundzuständige Messstellenbetreiber verwendet. Durch die Cloud haben wir mehr Kapazitäten für unser Kerngeschäft und die Aufgaben neuer Geschäftsmodelle“, so Astrid Ziegler. Zeitaufwendige Standardprozesse gehören durch diesen Software-as-a-Service-Dienst der Vergangenheit an. Eingesetzt wird die SAP-Cloud vollumfänglich für das Handling von operativen Prozessen wie dem Versand der Marktnachrichten, um z. B. Betriebs- und Projektkosten zu senken. Die VSE muss jetzt nur noch im Backend Änderungen durchführen, wenn von der Bundesnetzagentur neue Marktprozesse kommen. Den eigentlichen Formatwechsel übernimmt die Cloud-Lösung.

Hohes Arbeitspensum

Bis das Projekt nach einem dreiviertel Jahr abgeschlossen werden konnte, mussten einige Hürden genommen werden. Das Paket mit Technologiewechsel auf S/4HANA und gleichzeitig die Umsetzung der Marktkommunikation 2020 war arbeitsaufwendig. Hinzu kam der Wechsel in die Cloud, wo erst am realen System herausgefunden werden musste, ob alle bisherigen und neuen Prozesse wie unter Laborbedingungen funktionieren. Anhand der Rückmeldungen hat SAP die Lösungen möglichst passgenau für die bestehenden Markt- und Kundenanforderungen weiterentwickelt. So gab es z. B. den sternförmigen Versand zuvor nicht. „Wir können jetzt aus dem Messstellenbetriebssystem Werte gleichzeitig an alle Marktteilnehmer versenden. Bei diesem neuen Prozess mussten wir einerseits die IT-Implementierung meistern und andererseits den Prozessablauf etablieren“, so Astrid Ziegler. Hier gab es viele Wechselwirkungen, und die Projektbeteiligten mussten sich laufend austauschen und testen. Zudem galt es, die Mitarbeitenden zu schulen und neu aufzustellen.

Doch der Aufwand hat sich gelohnt. „Wir sind stolz, dass wir die automatische Abwicklung zwischen den Marktrollen fristgerecht umsetzen und das zeitgleich mit dem Technologiewechsel verbinden konnten“, resümiert Dr. Andreas Berg. Dass nun sämtliche Geschäftsprozesse in S/4HANA abgewickelt werden und die Marktprozesse über die Cloud laufen, hat noch weitere Vorteile. Mitarbeitende, die zuvor die Marktnachrichten generiert und das Monitoring übernommen haben, können sich nun auf Kernprozesse und Zukunftsthemen konzentrieren. Zudem profitiert das Unternehmen von einem schlanken System dank der Datenbereinigung, die es im Zuge der S/4HANA-Einführung durchgeführt hat

Pilotprojekt mit Vorzeigecharakter

Mit dem Ergebnis des Großprojekts ist die VSE somit zufrieden. Gleiches gilt für die Zusammenarbeit mit SAP. „Die Unterstützung und Zusammenarbeit war hervorragend, was sicher auch damit zusammenhängt, dass wir Pionierarbeit für die Energieversorgungsbranche geleistet haben“, erläutert Astrid Ziegler. So waren in der entscheidenden Phase sowie während des Go-live und der Stabilisierungsphase die wesentlichen Mitarbeitenden, die für die Entwicklung der Cloud-Lösung zuständig sind, bei der VSE vor Ort in den Projekträumen. Ebenso wurden neun Mitarbeitende aus Shanghai und Indien, die an der Entwicklung der Cloud-Lösung beteiligt waren, kurzerhand an den SAP-Standort nach St. Ingbert geholt, um einen engen Austausch ohne Zeitverschiebungsproblematik zu gewährleisten.

Mit diesen Erfahrungen im Gedächtnis überrascht es nicht, dass die VSE im nächsten Schritt den Weg in die neue S/4HANA-for-Utilities-Welt mit dem Rest der Systemlandschaft gehen will. Und damit nicht genug: „Wir beschäftigen uns z. B. auch bereits intensiv damit, die netztechnischen Prozesse weiter zu digitalisieren“, erläutert Dr. Andreas Berg. So wird daran gearbeitet, die Kunden- und Workforce-Prozesse im Netz technologisch weiter zu optimieren. Darüber hinaus wurden mit der bisherigen Modernisierung auch die Weichen gestellt für neue Themen, wie Machine-Learning. Fest steht: Auch ohne Pflichtenheft stehen genug Aufgaben auf der IT-Agenda.

Bildnachweis: VSE Aktiengesellschaft, Anna Polywka + VSE Aktiengestellschaft + Shutterstock

Autorin: Julia Theis
blaupause-Redaktion
blaupause@dsag.de

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