Per Expresszug durchs Projekt

Westlake Vinnolit stellt den Rohstoff für Produkte her, die alle eins gemeinsam haben: Sie sind überall im Einsatz, teils systemrelevant, werden meist aber kaum beachtet. Damit der Kunststoff PVC, aber auch Vinylchlorid oder Natronlauge, weiter zuverlässig produziert und vermarktet werden können, setzt der Branchenprimus aus Ismaning seit 2022 auf S/4HANA. Denn die Anforderungen sind hoch – Stichworte Nachhaltigkeit, volatile Energie- und Rohstoffpreise und digitale Transformation –, und Wachstum passiert hauptsächlich durch Innovation.

Eine kurze Aufzählung genügt, und es wird klar, wie wichtig Hersteller der chemischen Industrie sind. Nehmen wir allein den Werkstoff PVC: sein Einsatz als Fußbodenbelag, Vinyltapete oder der wiederentdeckten Schallplatte ist bekannt, seine Verwendung für Rohre und Kabelisolierungen, Kunststofffenster, Dichtungen, Kreditkarten und wasserabweisende Textilien, Kfz-Innenverkleidung, Blutbeutel, medizinische Schläuche und Untersuchungshandschuhe schon weniger. Aber auch die sogenannten Chlor-Alkali-Produkte sind unverzichtbar, z. B. als Reinigungsmittel in der Lebensmittelindustrie oder für die Herstellung von Papier, Glas, Keramik und Aluminium.

Wachstum dank Innovation

Mit welchen Themen und Herausforderungen Westlake Vinnolit tagtäglich konfrontiert ist, erklärt Peter Moosmann, Supervisor Corporate Applications am Firmensitz Ismaning: „Wir haben eine sehr energie- und rohstoffintensive Produktion, hinzu kommen die Wachstumsstrategie des Mutterkonzerns Westlake in den USA und die Digitalisierungsstrategie des Unternehmens. Auch beim Thema Nachhaltigkeit, der Klima- und Energiebilanz benötigen wir moderne IT-Lösungen.“ Eine weitere, große Aufgabe sind auch die vom US-Mutterkonzern getriebenen Firmenzukäufe, die die IT beim Thema Integration besonders fordern.

Nach 30 Jahren war Schluss

Für Peter Moosmann und sein Team, aber auch für den CIO in USA, war 2021 klar, dass eine Software-Lösung, die in ihrem Kern älter als 30 Jahre ist, technologisch schnellstmöglich auf neue Beine gestellt werden muss. Zum Hintergrund: Das bis dato eingesetzte SAP ERP ECC 6.0 wurde in allen Verwaltungsprozessen wie Order-to-cash (OTC), Procure-to-pay (P2P), Plant Maintenance & Invest (PM), sowie Quality-Management (QM), Supply-Chain-Management (SCM) und Finance & Reporting bei Westlake Vinnolit verwendet.

„Da unsere Umgebungsparameter, wie etwa die Konfiguration des Systems, überwiegend im Standard liefen und auch unser Geschäftsmodell sehr stabil ist, haben wir uns aus Kosten- und Effizienzgründen dazu entschieden, den schnellsten Weg zu S/4HANA mittels Brownfield-Ansatz umzusetzen“, blickt der Team-Leiter zurück. „Nur so war es möglich, dass wir mit einer Projektlaufzeit von sieben Monaten Konvertierung und Going-live durchführen konnten – inklusive zwei Monaten Pause zum Jahresabschluss im Dezember und Januar. Wir waren quasi ein ‚Hochgeschwindigkeitszug‘.“ Ebenfalls besonders war, dass die komplette Migration remote stattfand, einzig zur Projektabschlussfeier traf sich das Team in persona.

Stolpersteine auf dem S/4HANA-Weg

Nach ersten Hürden wie Finanzierung, Commitment und intransparentem Return-on-Investment (RoI), der laut Peter Moosmann „nicht hart an einzelnen Prozessen berechnet werden kann, sondern eher eine Gesamtbetrachtung ist“, standen er und sein Team schnell vor komplexen Fragen: „Die Finance-Conversion und hier insbesondere die Anlagenbuchhaltung mit ihren unterschiedlichen Bilanzierungsversionen wie HGB, US-GAAP und TAX (s. Glossar S. 42) und ihrer langen Historie haben uns bei der Migration kurzzeitig Kopfzerbrechen bereitet“, erinnert sich Peter Moosmann, „schließlich kann man sich hier bildlich am besten vorstellen, dass 100 Tabellen am Ende eine einzige ergeben sollen. Auch mussten wir eine Lösung für die Übernahme der Versicherungswerte durch die Definition eines eigenen Bewertungsbereichs implementieren.“ Als Teil eines in Amerika börsennotierten Unternehmens galt es zudem, die Abstimmung mit Prüferinnen und Prüfern der Revision zu beachten. „Wir haben deshalb eine projektbegleitende Prüfung gewählt, die sich als ein weiterer Erfolgsfaktor herausgestellt hat.“

Fünf Proben sollt ihr sein

Eine der größten Herausforderungen war es, zum Projektstart herauszufinden, ob das System an einem Wochenende produktiv gestellt werden kann. SAP gibt fünf Migrationen auf dem Weg zu S/4HANA vor, „und nun wissen wir auch, weshalb“, erinnert sich Peter Moosmann. „Die Migration am Osterwochenende ist hauptsächlich unserem detaillierten Cut-Over-Plan zu verdanken, der war quasi das Zünglein an der Waage“. SAP gibt zwar diese Menge an Testläufen vor, der Nutzen wird aber erst im Projektverlauf klar: „Mit jeder weiteren Umstellung wurden wir besser, und obwohl wir bei der vierten Generalprobe noch Probleme hatten, lief der Going-live dann minutiös geplant und brillant. Es war also nicht wirklich eine schnelle Geschichte, obwohl wir rein zeitlich natürlich schnell waren!“

Neues Hauptbuch mit Konsequenzen

Dank Brownfield konnten die Themen bei der technischen Umsetzung schlank gehalten werden. Funktional gilt aber bei der Einführung des neuen Hauptbuchs Folgendes: Man kann von einem Kontenmodell auf ein Kontenmodell mit einem Ledger umsteigen, bei der Konvertierung ist es aber nicht möglich, hier gleich auf das Ledger-Modell überzugehen. Dies muss dann entweder als Vorprojekt oder als nachgelagertes Projekt mit einem SLO-Service (s. Glossar) stattfinden.

Im nächsten Schritt wird nun die kalkulatorische auf die buchhalterische Ergebnis- und Marktsegmentrechnung umgestellt, da diese funktional erst mit S/4HANA und SAP CO-PA (s. Glossar) in dem von Westlake Vinnolit notwendigen Funktionsumfang zur Verfügung steht. Zudem soll das Profit-Center-Accounting ebenfalls noch in das Universal Ledger überführt werden. Erweiterungen sind auch beim SAP Fiori Launchpad geplant. „Hier haben wir uns aus Zeit- und Ressourcengründen zunächst auf die Must-Apps beschränkt. Im nächsten Schritt wollen wir nun aber endlich auch das Dashboard und die Freigabeprozesse verstärkt nutzen“, sagt der Supervisor.

Express- statt Bummelzug

Mit SAP als erfahrenem Implementierungspartner gestaltete sich die Zusammenarbeit – nach einer Findungsphase – sehr gut. „Auch beim Thema Anlagenbuchhaltung, wo wir wirklich schnell die Kuh vom Eis holen mussten, war die Unterstützung top“, freut sich Peter Moosmann immer noch. Als nächstes soll das SAP-Enterprise-Warehouse-Management (EWM)-System zurück migriert werden, möglich ist dies nur dank S/4HANA. Weitere Investitionen sind aktuell für Automatisierungsprojekte geplant, wie z. B. das digitale Order-Management, das die Kundenauftragserfassung teilweise automatisieren soll.

Bildnachweis: iStock, iStock+Westlake Vinnolit GmbH+ Co. KG, Westlake Vinnolit GmbH+ Co. KG+Daniella Winkler